Diversität oder kultureller Fit: Muss ich mich entscheiden?

Diversität und kultureller Fit

Beschäftigt man sich mit Organisationskultur und HR, stösst man bald auf die Begriffe «Diversität» und «kultureller Fit» (hier eine externe Definition). Letzterer taucht häufig im Zusammenhang mit Recruiting auf und beschreibt, wie gut BewerberInnen zur Organisationkultur passen. Es kann z.B. hilfreich sein, bereits im Vorstellungsgespräch zu überprüfen, ob die BewerberInnen auch die Werte der Firma teilen und diese mittragen werden: «Passt» die Person zu uns, wird er/sie sich bei uns einfügen? Man geht davon aus, dass Kenntnisse und Kompetenzen viel eher erworben werden können als die innere Haltung, von der hier die Rede ist.

Andererseits ist gerade auch «Diversität» ein Modewort im Schnittpunkt von HR und Kultur. Es geht dabei nicht nur um gesellschaftliche Fairnesskriterien. Ganz abgesehen davon kann eine Firma sehr davon profitieren, wenn sie Personal mit verschiedenen Erfahrungen und mit verschiedenen Eigenschaften rekrutiert. Auch hier geht es nicht nur um Verschiedenheit in Kompetenzen und Skills, sondern auch um andere Lebenswelten. Dies kann für die Erschliessung neuer Kundengruppen, aber auch für Innovation nützlich sein: Jüngere/Ältere Leute, Leute mit anderem kulturellen Hintergrund oder aus anderen Bevölkerungsschichten bringen andere Perspektiven und neue Ideen ein.

Auf den ersten Blick ergibt sich dadurch allerdings ein Dilemma: Wenn mir die kulturelle Passung wichtig ist, muss ich dann auf Diversität verzichten? Und schadet zuviel Diversität eigentlich der gemeinsamen Organisationskultur?

Was heisst denn hier Kultur?

Über Diversität kann man eigentlich erst reden, wenn man weiss, was denn die «bisher vorherrschende Kultur» wäre, zu der man Alternativen sucht. Und hier steht und fällt alles mit dem Kulturbegriff. Ich beobachte immer wieder einen grossen Spielraum, was Organisationen als «Werte», «Prinzipien» oder «unsere Kultur» bezeichnen. Eine Auswahl:

  • Wir sind alle Ingenieure / wie eine Familie.
  • Ehrlichkeit/Transparenz ist für uns zentral.
  • Wir sind innovativ / setzen auf Stabilität.
  • Wir produzieren Schweizer Qualität.

Diese verschiedenen Sätze ergeben nun auch einen sehr verschiedenen Umgang mit dem oben genannten Dilemma. Alles steht und fällt damit, wie eng man diese Prinzipien oder Werte fassen will. Die einen dieser Prinzipien haben einen grossen Interpretationsspielraum, andere sind beinahe unverhandelbar und erlauben deshalb auch kaum Diversität.

Diversität: Wieviel Spielraum ist möglich?

Nimmt man «Wir sind alle Ingenieure» rein wörtlich, dürften eigentlich keine Personen ohne Ingenieurshintergrund angestellt werden. Im Allgemeinen wird aber ein solches Prinzip so ausgelegt, dass die Denkweise von Ingenieuren und Ingenieurinnen im Unternehmen gelebt wird. So ist es auch in den Prozessen und Positionen gültig, welche direkt nichts mit Engineering zu tun haben. Diese Interpretation erlaubt dann etwas mehr Diversität, auch wenn natürlich die «Denkweise von IngenieurInnen» auch zuerst einmal definiert werden muss.

Auch die «Familie» verlangt immer wieder nach Interpretation: Besetzt man Stellen tatsächlich am liebsten mit Familienmitgliedern? Ist vor allem eine herzliche, familiäre Kommunikation gemeint? Soll Privates und Berufliches gemischt werden? Ist eine Kündigung eigentlich ein No-Go? Je nach Auslegung ist hier Diversität möglich oder eben nicht.

Werte wie «Ehrlichkeit», «Respekt» oder «Transparenz» hingegen schliessen Diversität eigentlich von vornherein aus. Kaum ein Unternehmen möchte hier eine Varianz. Hier handelt es sich eher um einen unverhandelbaren Grundwert der Kultur.

Die «Schweizer Qualität» bringt noch einen weiteren Aspekt hinein: Es ist manchmal zu unterscheiden zwischen Werten, welche für das Kundenversprechen nach aussen bedeutsam sind und Werten, die (auch) intern relevant sind. Schweizer Qualität muss nicht bedeuten, dass intern nur SchweizerInnen am Werk sind – eigentlich nicht einmal, dass die Produktion zwingend in der Schweiz statfindet.

Die Werte «Innovation» und «Stabilität» betonen den jeweils einen von zwei Ausprägungen, welche eigentlich in fast jedem Unternehmen vorhanden sind. So haben auch Firmen, welche verlässliche und stabile Produkte vertreiben, in der Regel eine Innovationsabteilung und ideenreiches Marketing. Andererseits freuen sich selbst innovative Startups, wenn die System-IT oder die Buchhaltung verlässlich und stabil arbeitet. Hier wird klar, dass eine gewisse kulturelle Diversität sich schon innerhalb der Firma nicht vermeiden lässt.

Kultur = wie mit Diversität umgehen?

Allerdings zeigt dies auch die Schwierigkeit mit der Diversität: Sie schafft Reibungen und manchmal auch Konflikte. Die innovativen App-Entwickler beschweren sich, wenn sie ein Tool aus Sicherheitsgründen nicht nutzen dürfen. Und die Buchhaltung regt sich darüber auf, wenn Belege für Ausgaben im kreativen Chaos nicht mehr auffindbar sind.

Gerade wie man mit diesen Konflikten umgeht, ist also ein wichtiger Bestandteil der Unternehmenskultur. Verhandelbare und nicht verhandelbaren Aspekte der eigenen Kultur sind dabei zentral: An welche Regeln wollen wir uns bei aller Diversität in jedem Fall halten? Für welchen von zwei Werten, die im Konflikt stehen, entscheiden wir uns im Zweifelsfall? Wo sind wir bereit, für mehr Diversität mehr Reibungen in Kauf zu nehmen, wo allenfalls auch nicht? Welche unterstützenden Massnahmen planen wir, um diese Reibungen konstruktiv nutzen zu können?

Für das Recruiting könnte man sich folgende Fragen stellen: Welche impliziten oder expliziten Annahmen haben wir über unsere «Kultur», wo uns jedoch möglicherweise etwas mehr Diversität weiterbringen könnte? Hilfreich ist es auch, wenn man sich bei Neubesetzungen überlegt, wie man den kulturellen Fit oder eben die gewünschte Diversität überhaupt überprüft. Handelt es sich dabei nur um klar erkennbare Kriterien (bestimmte Herkunft, Geschlecht) oder um abstraktere (bringt Erfahrungen mit, welche wir noch wenig kennen, «denkt» anders)? Und, wichtig: Wie geht der Bewerber oder die BewerberIn selber mit Diversität um?

Diversität steht also nicht im Gegensatz zum kulturellen Fit. Im Gegenteil: Wie man Diversität überhaupt definiert und wie man mit ihr umgeht, ist selber eine Ausprägung der Unternehmenskultur. Und wie jeder andere Aspekt der Kultur wird auch dieser täglich durch viele kleine Entscheidungen geprägt und verändert – gerade auch, wenn Organisationen wachsen.