Effectuation: Agilität einen Schritt weiterdenken

Effectuation: Das Lemonade-Prinzip

Was heisst eigentlich Agilität? Agilität heisst, jederzeit schnell auf die Veränderungen der Umwelt reagieren zu können. Bei Methoden wie Scrum oder Kanban steht zudem die Maximierung des Werts im Vordergrund. Tue stets das, was aus der gegenwärtigen Perspektive den grössten Mehrwert bietet: Priorisiere und fokussiere.

So weit, so gut. Anhand der obigen Definition könnte man mit Recht behaupten, dass eine Pflanze agil ist, welche bei einsetzendem Regen die Blüte schliesst. Oder eine Herde von Antilopen, welche sich wegbewegt, wenn das Wasserloch versiegt, beziehungsweise ein Löwe am Horizont auftaucht. Für uns Menschen lässt diese Definition einen wichtigen Aspekt ausser Acht: Wir haben die Möglichkeit, auf unsere Umwelt einzuwirken und diese direkt mitzugestalten. Effectuation berücksichtigt genau diesen Punkt, zusätzlich zur Dimension «Vorhersagen oder nicht».

Wieviel gestalte ich, wieviel sage ich vorher?

Gehen wir davon aus, dass sich unsere Domäne vorhersagbar verhält oder eher nicht? Betrachten wir dazu das untenstehende Modell. Die agile Pflanze aus dem oberen Beispiel bewegt sich definitiv im Quadranten unten rechts. Sie hat keine Ahnung von langfristiger Wettervorhersage, aber wenn es regnet, reagiert sie darauf. Das traditionelle Planen finden wir unten links: Wir versuchen, datengestützt die Zukunft so gut wie möglich vorauszusagen.

VorherSAGEnNICHT VORHERSAGEN
GESTALTENVisionieren
«Ich baue die Welt nach meinen Ideen»
Effektuieren
«Ich handle die Zukunft mit euch aus»
POSITIONIERENPlanen
«Gute Analysen sind die halbe Miete»
Anpassen
«Ich muss einfach nur schnell lernen»
PAVE-Modell (nach Faschingbauer 2017, S. 147)

Normalerweise werden die agilen Ansätze in der Tat vor allem der traditionellen Planung gegenübergestellt. Planung macht dann Sinn, wenn die Zukunft tatsächlich erforschbar ist und man sich im bekannten, relativ stabilen Umfeld bewegt: Wenn ich nur genug weiss, dann habe ich gute Chancen, dass es gut kommt. Es ist ebenso bekannt, dass unter Ungewissheit und dem Aspekt fehlender Vorhersagbarkeit andererseits die agilen Methoden sehr gut geeignet sind. Beide Ansätze vereint jedoch, dass sie gegenüber dem Aspekt der Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft eher defensiv sind.

Der Plan wird eingehalten, bei Abweichungen wird in definierter Weise reagiert. Ein Scrum-Team wiederum hat zwar die Möglichkeit, während des Sprints zu bestimmen, wie genau es etwas technisch umsetzen will. Dies aber nur innerhalb der Leitplanken, welche vom Product Owner gesetzt sind. Der Product Owner handelt mit den KundInnen aus, was genau umgesetzt werden soll und was den grössten Wert bietet: «Customer Collaboration over Contract Negotiation», wie es eines der vier Prinzipien im Agile Manifesto beschreibt. Wenn er dabei – ausgehend von der Situation seines Unternehmens oder des Scrum Teams – auch eigene Ideen einbringt, nähern wir uns zunehmend der Effectuation an.

Effectuation: Die Prinzipien dahinter

Effectuation entstammt den Forschungsarbeiten der amerikanischen Professorin Saras D. Sarasvathy. Aus Interviews mit erfolgreichen UnternehmerInnen leitete sie schon 2001 einige Prinzipien ab, welche diese instinktiv anwenden 1Im deutschen Sprachraum wird gemeinhin von 4 Prinzipien gesprochen, da Michael Faschingbauer als Promoter von Effectuation im deutschen Sprachraum das fünfte Prinzip «Steuern ohne Vorhersage (Pilot in the Plane)» als eigentliche Grundhaltung der Effectuation interpretiert . :

  • Das Prinzip der Mittelorientierung (Bird in Hand): Beginne mit dem, was du bist, was du hast und was du bereits kannst. Welche Möglichkeiten ergeben sich daraus?
  • Das Prinzip des leistbaren Verlusts (Affordable Loss): Anstatt den finanziellen Erfolg im Voraus zu berechnen – wieviel wirst du durch das Vorhaben im schlimmsten Fall verlieren? Wenn der Verlust tragbar ist – tu es!
  • Das Prinzip der Umstände und Zufälle (Lemonade2Benannt nach dem Spruch «When life gives you lemons, make lemonade». Dies erklärt auch das Einleitungsbild oben.): Welche Tür hat sich durch einen Zufall gerade geöffnet? Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich daraus?
  • Das Prinzip der Vereinbarungen und Partnerschaften (Crazy Quilt): Wen kennst du? Was könntet ihr zusammen in die Wege leiten? Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich aus der Vereinigung eurer Kenntnisse und Mittel?

Agilität mit Effectuation kombinieren

Wie kann ich nun in einem agilen Projekt oder in meinem Unternehmen die Vorteile von Effectuation nutzen? Einige Ideen hier – wie immer helfe ich Ihnen gerne bei der Umsetzung in der Organisation:

  • Lassen Sie Ihren Teams und MitarbeiterInnen Freiraum im Rahmen des «Leistbaren Verlusts»: Ermutigen Sie auch innerhalb von Projekten neue Ideen und lassen Sie diese umsetzen, wenn sich der Aufwand im Bereich des «Leistbaren Verlusts» bewegt. Auch innerhalb eines Sprints kann Platz für Innovation sein.
  • Machen Sie eine Auslegeordnung von Ressourcen, die bereits vorhanden sind. Wissen Sie, was Ihre MitarbeiterInnen neben dem, wofür sie angestellt sind, sonst noch gerne tun würden und können? Welche Ressourcen liegen im Moment brach? Könnte man allenfalls etwas daraus machen, was auch den KundInnen nützt? Dann sofort ins Backlog damit!
  • Nutzen Sie nicht nur «Customer Collaboration», sondern «Co-Creation» – arbeiten Sie regelmässig mit Ihren KundInnen, Ihren LieferantInnen und vielleicht sogar Ihren KonkurrentInnen zusammen. Wer weiss, ob ein Konkurrent nicht plötzlich ein Kunde werden könnte, wenn die Umstände so unvorhersehbar sind. Und gerade aus der Interdisziplinarität entsteht nicht selten Innovation.

Zusammengefasst: Die Prinzipien von Effectuation machen das Unternehmen als solches «agiler», indem es unter unvorhersehbaren Umständen flexibel, innovativ und wertorientiert agieren kann. Sie können aber selbst in agilen Projekten helfen, darüber hinaus mögliche Innovationen im Blick zu behalten und die ungewisse Zukunft mit zu gestalten.


Literatur: Faschingbauer, M. 2017. Effectuation: Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln. 3. Auflage. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.