Selbstorganisation: Sinnvoll oder Hype?

Selbstorganisation: Kreise

Nach Agilität ist auch «Selbstorganisation» dabei, sich zu einem neuen Buzzword zu entwickeln. Das Problem mit dem Begriff ist jedoch, dass man sehr Uneinheitliches damit meint. Unter anderem (die Liste ist bei weitem nicht vollständig!) gibt es da:

  1. Persönliche Selbstorganisation, z.B. «Wie ich alles unter einen Hut bekomme – als Mutter oder Führungskraft».
  2. Was in der Krise passiert, wenn schnelle Lösungen gefragt sind: «Niemand da? Dann müssen wir uns halt selbst organisieren!»
  3. Was in der Natur und in der Physik von selbst passiert: Systeme versuchen stets automatisch, eine Ordnung (oder Unordnung) herzustellen. Sie «organisieren» sich selbständig. Übertragen gilt das auch für soziale Systeme – Bienenstöcke, Pferdeherden oder Menschengruppen.
  4. Eine bestimmte Art, Teams und Organisationen zu gestalten, so dass Macht nicht nur von oben ausgeübt wird und das System seine Strukturen und Prozesse selber wählen kann. Bekannte Methoden dafür sind Holacracy und Soziokratie.

Selbstorganisation findet statt!

Was auch immer die Ausgangslage : Natürliche Selbstorganisation nach Punkt 3 findet auch in Ihrer Firma bereits statt. Vielleicht sind Ihnen folgende Phänomene vertraut:

  • Es bilden sich informelle Netzwerke, in denen wichtige Informationen weitergegeben werden, ganz unabhängig vom Organigramm.
  • Täglich tauchen neue Herausforderungen auf, für die es keinen Prozess im System gibt. Für viele werden problemlos Lösungen gefunden.
  • Widersprüchliche Anforderungen, die je nach Situation anders gewichtet werden.
  • Innovative Mitarbeiter finden kreative Lösungen, in ihrer täglichen Arbeit effizienter zu werden… etc.

Blockieren, tolerieren, fördern?

Mit diesen Phänomenen kann man auf drei Arten umgehen:

  1. Man versucht die Selbstorganisation nach Möglichkeit zu verhindern. Es wird nur so kommuniziert wie vorgesehen, es gibt nur die definierten Prozesse. Jede neue Lösung wird als neuer Prozess aufgenommen. Abweichungen werden sanktioniert.
  2. Man toleriert die Selbstorganisation neben den definierten Prozessen, solange es nicht zu heftigen Konflikten kommt. Offiziell gibt es diese aber nicht, d.h. man honoriert dieses Verhalten nicht, bestraft es aber auch nicht.
  3. Man fördert die Selbstorganisation gezielt. Dazu definiert man einen Rahmen, innerhalb dessen Selbstorganisation stattfinden darf. Innerhalb dieses Rahmens baut man alle Hindernisse ab, die sie verhindern.

Welche der drei Varianten eine Organisation wählt, hängt auch von ihrem Zweck ab. In einem Operationssaal ist nicht der gleiche Umgang mit Selbstorganisation sinnvoll wie in einem Telecom-Unternehmen oder in einer Werbeagentur. Ob man Selbstorganisation also sinnvoll findet oder nicht: Wählen kann man nur, wie man mit ihr umgeht.

Will man nun die Selbstorganisation in einem Unternehmen gezielt fördern, sind wir bei Definition 4. Man möchte die Organisation so gestalten, dass lokale Einheiten ihre Strukturen und Prozesse wählen. Macht und Verantwortung soll gleichmässiger verteilt werden. Meist ist der Auslöser, dass die Organisation oder ein Teil davon durch ein sich immer schneller veränderndes Umfeld agiler werden muss und man lokale Lösungen und Innovation gezielt nutzen will.

Fördern der Selbstorganisation: Der Rahmen und die Rollen

Ein wichtiger Punkt dabei ist das Setzen eines Rahmens. In welchem Rahmen darf die Organisation sich selber organisieren? Selbst wenn sich ein ganzes Unternehmen selbst organisiert, gibt es immer Abhängigkeiten zum Umfeld. Der Kunde erwartet weiterhin guten Service, Gesetze müssen eingehalten, Hypotheken bezahlt werden. Auch der Zweck des Unternehmens (wofür stehen wir, warum gibt es uns?) ist immer Teil des Rahmens und setzt der Selbstorganisation Grenzen. Dann geht es darum, innerhalb des Rahmens die Strukturen flexibel zu halten.

Ein wichtiges Prinzip ist, die Rollen von der Person zu trennen. So kann eine Person zum Beispiel mehrere Rollen ausfüllen (z.B. Administration einer Datenbank UND Moderation von Sitzungen UND Verantwortung für ein Fachthema). Kündigt aber diese Person, so sucht man keinen Ersatz, der genau diese drei Rollen ausfüllt. Vielmehr verteilt man die Rollen neu, fast immer auf verschiedene, dafür jeweils am besten geeigneten Personen. Die Rollen können auch generell rotiert werden, so dass nicht immer die gleichen Aufgaben bei der gleichen Person sind.

Die Verantwortung wird auf die einzelnen Rollen und somit auf mehrere Personen verteilt . Theoretisch kann die Organisation zwar entscheiden, Verantwortung bei einer Person zu zentrieren, indem sie dieser mehrere verantwortungsreiche Rollen übergibt. Manchmal ist auch aus gesetzlichen Gründen die Definition eines Chefs nötig . Meist ist dies dann eine Rolle, die nur der Vertretung gegenüber aussen dient und nicht mit interner Macht verbunden ist. Entscheidungen werden im Kreis gemeinsam gefällt, die Regeln gemeinsam erstellt und kontrolliert. Mechanismen wie Mitarbeiterbeteiligung sorgen zudem dafür, dass sich die einzelnen Mitarbeiter auch für den Geschäftsgang des Unternehmens mitverantwortlich fühlen.

Flexibilität durch Kreisstruktur: Agil, aber anspruchsvoll!

Oft geschieht die Selbstorganisation statt in fixen Teams in flexiblen «Kreisen», welche sich um ein bestimmtes Thema oder einen bestimmten Zweck kümmern (früher hätte man das wohl «Arbeitsgruppe» oder «Kommission» genannt). Damit betont man nicht nur die prinzipielle Gleichgestelltheit aller Mitglieder, sondern die Kreise sind selber flexibel. Sie formieren sich neu, erweitern oder verengen sich je nach Bedarf. Die Kreise haben jeweils Rollen, welche sich spezifisch um die Verbindungen der Kreise untereinander kümmern, so dass der Zusammenhalt gewährleistet ist. Auch das Schaffen einer neuen Rolle ist in einem kleinen Kreis schnell und unbürokratisch möglich.

Je mehr Verantwortung die Kreise oder einzelne Rollen übernehmen, desto besser muss die Information als Entscheidungsgrundlage fliessen. Eine hohe Transparenz ist Voraussetzung: Alle haben Zugang zu den relevanten Informationen.

Eine solche Struktur ist einerseits extrem anpassungsfähig, aber auch anspruchsvoll in der Aufrechterhaltung. Sie bedingt nämlich, dass neben dem Tagesgeschäft periodisch immer wieder ausgehandelt wird, welche Rollen nötig sind, welche Kreise sinnvoll sind oder wie diese neu gestaltet werden können. Die bekannten Methoden Soziokratie oder Holacracy stellen Werkzeuge bereit, mit denen diese Prozesse einfacher ablaufen können. Darunter sind Vorschläge für bestimmte Arten von Meetings, Rollen-Templates oder Entscheidungsmethoden. Die Umstellung auf Selbstorganisation braucht Zeit und passt bei weitem nicht für alle MitarbeiterInnen. Konfliktfähigkeit, Diskussionsfähigkeit und der Wille zur ständigen Mitgestaltung sind dabei Schlüsselkompetenzen

Selbstorganisation: Braucht meine Organisation das?

Ist Selbstorganisation nun also sinnvoll oder nicht? Diese Frage lässt sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Die folgenden Kriterien sind aber dabei wichtig:

  • Muss meine Organisation auch in Struktur und Rollen sich ständig an neue Anforderungen anpassen können, weil sich das Umfeld so rasch ändert? Ist für die Organisation ständige Innovation wichtiger als stabile Produkte? Wenn ja, spricht dies für die Selbstorganisation.
  • Ist die Organisation bereit, für diese Art Anpassungsfähigkeit einen gewissen Teil der verfügbaren Zeit ständig darin zu investieren, die Strukturen zu überprüfen und anzupassen? Herrscht Akzeptanz dafür, dass kollektiv gefasste Entscheide länger dauern als von oben einfach gefällte?
  • Ist die Organisation bereit, den Informationsfluss neu zu organisieren, so dass aufgrund von mehr Transparenz von allen MitarbeiterInnen bessere Entscheidungen getroffen werden können?
  • Sind die Führungskräfte bereit, ihren Einfluss und ihre Verantwortung mit den restlichen Mitarbeitern zu teilen und nur noch einzelne Rollen als Verantwortungsträger zu übernehmen?
  • Schätzen die MitarbeiterInnen mehr Autonomie? Sind sie bereit, immer wieder neue Aufgaben zu übernehmen und ihr Arbeitsumfeld aktiv mit zu gestalten? Kommen sie mit sich ändernden Strukturen und Rollen zurecht? Sind sie willens und fähig, Konflikte konstruktiv auszudiskutieren?
  • Ist die Organisation allenfalls bereit, MitarbeiterInnen und Führungskräfte ziehen zu lassen, welche sich in einem solchen Umfeld auf Dauer nicht wohl fühlen?

Eines ist sicher: Der Übergang zu (mehr) Selbstorganisation ist für kein Unternehmen einfach. Es handelt sich um einen Veränderungsprozess, der viel Zeit braucht und dessen einzelne Schritte gut geplant werden müssen. Nur wenn jedem einzelnen Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin klar ist, wohin die Reise geht, warum man sie antritt und welche Vorteile am Schluss winken, kann das Vorhaben gelingen. Selbstorganisation einzuführen, weil es gerade modern ist, genügt dafür nicht.