Ungeschriebene oder explizite Regeln: Vom Fettnäpfchen zur Team-Charta

Implizite Regeln

Gibt es in Ihrem Team Regeln? Was für Regeln denn? Einerseits sprechen wir hier von expliziten Regeln, also Regeln, über die im Team gesprochen wurde und die vielleicht sogar verschriftlicht sind. Andererseits gibt es immer auch implizite Regeln, also ungeschriebene Gesetze, an die man sich hält, wenn man ein Mitglied des entsprechenden Teams ist. Und das ist meist die spannendere Variante. Tatsächlich wird in vielen Teams das Thema erst dann sichtbar, wenn sich das Team oder einzelne Teammitglieder nicht so verhalten, wie sich das andere oder die Führungskraft vorstellen. Ganz ähnlich wie bei Familienfeiern an Weihnachten: Von innen sieht man die Regeln oft nicht, aber wenn neue Personen hinzukommen, können diese plötzlich ein Thema werden.

Team 1: «Bei uns gibt es keine Regeln, wir sind unkompliziert!»

Salome ist zum ersten Mal am Weihnachtsabend bei den Eltern ihres neuen Partners Jeff eingeladen. Die ganze Familie wird dort sein, inklusive Jeffs Tante, der Grossmutter und seiner Schwester mit ihren zwei Kindern. Salome ist etwas nervös. Jeff sagt: «Das ist ganz unkompliziert, bei uns gibt es keine Regeln». Nach dem Weihnachtsessen sagt Salome: «Ok, aber mit Jeans wäre ich schon sehr aufgefallen. Zum Glück habe ich allen ein Geschenk mitgebracht. Und nach dem Spaziergang statt Tee einen Kafischnaps verlangen wäre unmöglich gewesen!» Jeff: «Gut, aber das war ja klar, oder?«

Im Gegensatz zu Jeff sind Salome eine Anzahl impliziter Regeln aufgefallen. Ähnlich geht es MitarbeiterInnen, welche neu in einem Team anfangen. Interessanterweise sind eine Mehrheit von Teams der Meinung, bei ihnen gäbe es (zum Glück) keine Regeln, weil das z.B. auch wegen der guten Stimmung überhaupt nicht nötig sei. Meist ist damit aber nur gemeint, dass man bisher nicht über die Regeln gesprochen hat, oder diese nicht festgehalten wurden. Neuzugänge können deshalb dabei helfen, implizite Regeln aufzudecken und auch darüber zu sprechen.

Risiken für Team 1:

  • Regeln oder das Sprechen darüber als Indikator dafür sehen, dass das Team Defizite hat.
  • Entrüstet/verletzt sein, wenn sich Teammitglieder nicht an die ungeschriebenen Regeln halten.
  • Wahrgenommene «Regelverletzungen» nicht ansprechen, um den Teamgeist nicht zu stören.

Team 2: «Alles hat seine Ordnung – ohne Regeln läuft gar nichts.»

Dieses Jahr organisiert Marias Schwester zum ersten Mal die Weihnachtsfeier für die ganze Familie. Schon im November erhält Maria eine aufwändig gestaltete Einladungskarte («Gültig: für dich und einen allfälligen Liebsten!») mit dem Programm: «16:00 Eintreffen und Glühwein im Garten. 17:00 Präsentation des Weihnachtsbaums für die Kinder, gemeinsames «Oh du fröhliche» und Austausch der Geschenke. (Achtung: nicht mehr als 10 Franken wert, Ausnahme Kindergeschenke!). Ganz unten an der Karte steht noch: «Dresscode: fröhliche Weihnachtspullover».

Offensichtlich ist für Marias Schwester eine gute Planung die halbe Miete – Überraschungen sollten bitte auf die Wichtelgeschenke beschränkt bleiben. Auch im Arbeitsleben gibt es Teams, die so agieren. Sie halten in einer «Team-Charta» schriftlich fest, wer für was zuständig ist, was die handfesten Resultate aus jedem Meeting sein sollen, wann wer gestört werden darf und wann wer im Büro sein muss. Dies macht es einfacher, die gegenseitigen Erwartungen zu managen. Gerade für neue Teammitglieder entsteht so ein Rahmen, der Sicherheit bietet und den Einstieg erleichtert. Manchen Teammitgliedern ist das hingegen zuviel. Sie nerven sich über den Aufwand, der betrieben wird, um diese «Team-Charta» aktuell zu halten und wünschen sich mehr «gesunden Menschenverstand».

Risiken für Team 2:

  • Oft ist es schwierig, den Detailierungsgrad zu finden, der sinnvoll ist und der den Aktualisierungsaufwand in Grenzen hält. Wenn hier Unklarheit herrscht, nicht alle mitziehen und kein regelmässiger Prozess zur Überarbeitung definiert ist, veralten die Regeln schnell (siehe nächster Abschnitt).
  • Tendenz, die Team-Charta wörtlich als «Legislative» zu sehen: «Dafür habe ich im Team-Wiki keine Regel gefunden, also darf ich das auch so machen!» oder «Das steht nicht in meiner Rollenbeschreibung, also mache ich das sicher nicht».
  • Regeln explizit machen schützt nicht davor, trotzdem implizite Regeln zu haben. Manchmal können explizite Regeln das Team sogar für implizite Regeln besonders blind machen.

Team 3: «Team-Charta – check! Und jetzt endlich arbeiten.»

Michael und seine Mutter unterhalten sich darüber, wie dieses Jahr Weihnachten gefeiert wird. «Dieses Jahr machen wir bei dem Konsumrausch nicht mehr mit», sagt die Mutter. Michael stimmt zu: «Es geht doch um die Gemütlichkeit, nicht die Geschenke – diesmal geben wir uns nichts. Und die Kinder haben ja schon so viel Spielzeug.». An Weihnachten hat die Mutter trotzdem Geschenke für Michaels Kinder im Gepäck – und auch eine lustige Krawatte für Michael. Und siehe da, auch Michael hat auf dem Weihnachtsmarkt ein Badeset für seine Mutter gefunden. «Es ist ja nur etwas Kleines!» sagt er.

Am interessantesten sind Regeln, die sehr transparent sind – aber jeder im Team weiss, dass diese nicht gelten. Zum einen gibt es den Interpretationsspielraum, der durch die Firmenkultur bestimmt wird. «Wir halten Termine ein» (d.h., ein Tag später ist auch noch ok) oder «Wir teilen Verantwortung» (d.h. bei diesem und jenem Thema ist ganz klar, wer die Entscheidung trifft).

Manchmal gibt es sogar grosse Widersprüche zwischen dem, was offiziell gilt und dem, was Sache ist. In einem Team, in das ich neu kam, hiess es zum Beispiel «Du kannst sitzen, wo du willst. Wir haben keine fest zugeteilten Arbeitsplätze». Aber als ich mich am nächsten Morgen am Tisch am Fenster installlierte, war jemand sehr überrascht: «Warum sitzt du denn da? Da sitzt normalerweise die Projektleiterin, da kannst du nicht sitzen. Sie hat auch einen ergonomischen Stuhl». Schnell merkte ich, dass von den 10 Arbeitsplätzen etwa 8 trotz gegenteiliger Beteuerungen eigentlich sehr wohl «zugeteilt» waren.

Oder man erhält auf die Frage nach Regeln die Antwort: «Ja klar, wir haben eine Teamcharta, ich kann sie dir schicken!». Wenn man diese dann liest, sind unter den Verantwortlichen für gewisse «Ämtli» Namen aufgeführt, die gar nicht mehr im Team sind, oder Meetings, die man im Kalender nicht mehr findet. «Ach ja, stimmt. Diese Charta ist halt schon älter». Für diese Widersprüche kann es verschiedene Gründe geben:

  • Die «expliziten Regeln» wurden aus äusserem Anlass festgehalten, aber sind für die Funktionsweise des Teams gar nicht relevant (z.B. Vorgaben vom HR oder oberer Führung, manchmal z.B. beim Einführen von agilen Frameworks).
  • Das Team 3 ist wie Team 2 gestartet, hat dann aber irgendwann aufgehört, die Regeln aktuell zu halten – z.B. weil sich die Teammitglieder über den Sinn und Unsinn von Regeln nicht einig wurden.
  • Wunsch und Wirklichkeit gehen in der Praxis so stark auseinander, dass man mit den Widersprüchen leben muss. Der Widerspruch wird dann so aufgelöst, dass man wenigstens ein «Papier» hat, auf welchem der Zustand so ist, wie man es sich wünscht. Der Organisationssoziologe Nils Brunsson spricht hier vom legitimen Phänomen «organization of hypocrisy». So kann z.B. die Charta festhalten, dass man Probleme jederzeit sofort anspricht, auch wenn alle wissen, dass dafür eigentlich nie Zeit ist oder die Betreffenden sofort zum Problemlösen verknurrt würden (siehe auch «Die nicht-lernende Organisation«).

Risiken für Team 3:

  • Explizite Regeln, die veraltet oder unbrauchbar sind, verhindern die Beschäftigung mit Regeln: «Wir haben ja bereits eine Teamcharta, einen Workshop braucht es nicht.»
  • Bei «organization of hypocrisy» wird sogar aktiv verhindert, dass über die geregelte Problematik oder den Widerspruch an sich gesprochen wird – auf dem Papier ist es klar geregelt, also kann man mit Verweis darauf jede Diskussion abklemmen.
  • Für Neulinge ist es in diesem Umfeld am schwierigsten, sich zurechtzufinden. Vermeintlich herrscht Klarheit und Sicherheit, aber eigentlich lauern überall Fettnäpfchen und unbrauchbare Anweisungen.

Über Regeln sprechen: Warum es sich lohnt

Warum lohnt sich die Beschäftigung mit Regeln im Team? Erstens einmal machen Regeln die spezielle Kultur eines Teams greifbar – nicht nur für Neulinge, sondern auch für die Alteingesessenen. Was gilt bei uns, wofür stehen wir, was möchten wir? Und was nicht? Selbst in Teams, die «gut funktionieren», kann das Transparentmachen von impliziten Regeln dem Team bewusst machen, was in der Zusammenarbeit einfach so gut läuft – und dass das nicht selbstverständlich ist.

Zweitens schaffen explizite Regeln eine gewisse Sicherheit und Verbindlichkeit. Gerade in äusserlich «harmonischen» Teams können im Untergrund schwelende Konflikte, die persönlichen Differenzen zugeschrieben werden, oft durch das Verhandeln von verbindlichen Teamregeln entschärft werden. Es gilt jedoch darauf zu achten, dass der Detailierungsgrad stimmt, dass der Interpretationsspielraum mit Bewusstsein für das grosse Ganze genutzt wird und dass die Regeln regelmässig zusammen angeschaut und überarbeitet werden. Beim Interpretieren von Regeln ist es wichtig, dass sich das Team auch auf eine gemeinsame Wertebasis stützen kann und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut wurde.

Es ist auch nicht nötig, alle Widersprüche aufzulösen. Manchmal reicht das Thematisieren. Solange man sich der «organization of hypocrisy» und ihrer Funktion bewusst wird, kann man auch damit produktiv umgehen. Für Michael hiesse das dann: «Weisst du, Mama, es ist ja schon schlimm mit dem Konsum. Aber wenn ich dir nichts gebe, fühle ich mich einfach immer ein bisschen schlecht… kleine Geschenke müssen an Weihnachten doch einfach sein. Wollen wir es dieses Jahr mit feinen Delikatessen versuchen?»

Frohe Festtage!