Lohn: Ein Eisberg mit vielen Dimensionen

Eisbergmodell Lohn

Ich habe einmal in einem Unternehmen gearbeitet, da war der Lohn für alle transparent. Jeweils vor dem Weihnachtsessen wurde ein ausgeklügeltes Excel-Sheet verteilt. Dort waren alle Löhne von allen aufgeführt, vom Junior bis zum CEO, für über hundert Mitarbeitende. In einem Detaillierungsgrad, der einem die Befriedigung gab, alles genau analysieren zu können, wenn man es denn wollte. Faktisch war mir das dann tatsächlich gar nicht so wichtig. Ich konnte darauf vertrauen, dass sich die Firma dadurch keine grossen Ungerechtigkeiten leisten könnte – ein Beispiel für die Sicherheit durch Offenheit, ganz ähnlich wie es auch bei Open Source Software funktioniert.

Für viele Personen, mit denen ich spreche, ist ein solches Prinzip beim Thema Lohn jedoch vollkommen unvorstellbar. Noch immer gibt es Unternehmen, welche den Mitarbeitenden schlicht verbieten, über ihre Löhne zu sprechen. Trotzdem – oder vielleicht sogar dadurch – ist der Lohn im Stillen ein Riesenthema. Weibliche Führungskräfte fragen sich, ob sie wohl tatsächlich gleich viel verdienen wie der Kollege. Der Kollege wiederum fühlt sich mit Personalführungsaufgaben eigentlich nicht wohl, hadert aber mit dem internen Wechsel zu einer interessanten Expertenfunktion, weil diese weniger gut bezahlt wäre. Internetseiten, welche Informationen zu branchen- und funktionsspezifischen Gehältern veröffentlichen, werden fleissig konsultiert. JobeinsteigerInnen gehen mit steilen Forderungen in Bewerbungsgespräche und Unternehmen mit starken Werten rufen innerlich «pfui, pfui», wenn schon beim Ersttermin über Geld geredet wird.

Diskussionen über Lohn und Geld fühlen sich unmodern und konservativ an gegenüber dem, was heute in aller Munde ist – Purpose, Sinn, Werte, Unternehmenskultur. Genau deshalb führen wir sie hier und ertauchen anhand eines Eisbergsmodells die Dimensionen, welche das Phänomen Lohn hat.

Dimension Nr. 1: Die Sachzwänge beim Lohn

Fangen wir an der Spitze des Eisberges an, bei der «Sache». Diese hat zwei Seiten: Einerseits die Firmenseite. Lohnzahlungen machen in vielen Firmen den grössten Anteil an den jährlichen Ausgaben aus. Somit ist die Flexibilität nach oben hier nicht unbeschränkt. Zudem gibt es hier immer ein Risiko, da sich der Umsatz nur bedingt voraussagen lässt, die Löhne und Lohnbestandteile allerdings grösstenteils im Voraus vereinbart werden. Vom Unternehmen her gesehen handelt es sich beim Thema Lohn sachlich also vor allem um ein Verteilungsproblem mit Risiko: Wem verspreche ich wieviel vom Kuchen, von dem ich nur ungefähr weiss, wie gross er schliesslich sein wird?

Andererseits brauchen wir alle Geld zum Leben, und dieses Geld erhalten Angestellte über den Lohn. Reicht das Geld nicht zum Leben, ist der Lohn zu tief. Was «zum Leben reichen» bedeutet, ist jedoch ganz individuell. Was bei den einen ein guter Lohn wäre, reicht bei den andern nicht mehr für die Hypothek oder die Unterhaltszahlungen an die Ex-Frau und Kinder. Die meisten Leute befassen sich mit der Grenze «was ich wirklich zum Leben brauche» allerdings erst, wenn sie sich selbständig machen oder eine Auszeit planen. Für die eigene Lohnzufriedenheit wäre es durchaus sinnvoll, diese Rechnung auch sonst ab und zu zu machen. So kann sich eine gewisse Ruhe und Zufriedenheit beim Thema Lohn einstellen: Objektiv wäre eigentlich alles okay. Mit Betonung auf «wäre». Aber dazu später.

Dimension Nr. 2: Die kontinuierliche Verbesserung

Unternehmen nutzen den Lohn und Lohnbestandteile jedoch oft auch als Anreizsystem. Man geht davon aus, dass sich Mitarbeitende durch allfällige Lohnerhöhungen motivieren lassen, mehr zu leisten. Wieder andere Glaubenssätze lauten, dass Mitarbeitende, die keine Lohnerhöhung mehr zu erwarten haben, sich gehen lassen und eine ruhige Kugel schieben. Man kann sich ausrechnen, dass diese zwei Ideen irgendwann mit den Sachzwängen aus der ersten Dimension kollidieren: Spätestens wenn kein Budget mehr vorhanden ist, um diese Lohnerhöhungen bei entsprechendem Verhalten zu gewähren, wird man einige engagierte Mitarbeitende unweigerlich demotivieren. Die extrinsische Motivation hat zudem deutlich weniger positive Effekte als gemeinhin angenommen, wie ich hier in diesem Blogbeitrag auch schon aufgezeigt habe. Viele Unzufriedenheiten und Konflikte rund um den Lohn haben genau mit diesen Mechanismen zu tun – hier spielen auch die Dimensionen «Vergleich»/»Wertschätzung» hinein, von der noch die Rede sein wird.

Löhne müssen gemäss den erwähnten Sachzwängen ab und zu wachsen, um die Teuerung auszugleichen. Man kann dies natürlich mit weiteren Interpretationen und Bedingungen verknüpfen, aber dies muss nicht zwangsläufig so sein:

  • Nur wer sich bei uns regelmässig zeigt und anstrengt, bekommt mehr Lohn (siehe obiges Beispiel).
  • Wer einen (Fach-)Hochschulabschluss macht, bekommt mehr Lohn als vorher.
  • Wenn das Unternehmen gut performt, bekommen alle Ende Jahr einen Bonus.
  • Wenn das Unternehmen gut performt, bekommen die LeistungsträgerInnen einen Bonus.
  • Wer beim Chef nachfragt und gut verhandelt, bekommt eine Lohnerhöhung.
  • Wer mehrere Jahre lang bei uns bleibt, bekommt mehr Lohn als jene, die erst frisch da sind.
  • Wir gleichen die Teuerung jedes Jahr aus. Mehr ist da nicht dahinter.

Welche Verknüpfung existieren in Ihrem Unternehmen? Welche auch immer gewählt wird – hier wird die Organisationskultur ganz entscheidend mitgeprägt. Damit haben wir bereits die Wasserlinie erreicht – sichtbare Phänomene wirken auf unsichtbare ein.

Dimension Nr. 3: Die NachbarInnen, der Vergleich und die Fairness

«L’enfer, c’est les autres» – wenn man nur nicht wüsste, was die anderen verdienen! Dieser Wunsch steckt nicht nur hinter dem Verbot, firmenintern über Löhne zu reden. Es seufzen gleichermassen auch die HR-Abteilungen von KMUs, wenn sie erfahren, mit welchen Fantasielöhnen die Konkurrenz ihre Schlüsselpersonen oder jungen Talente umwirbt. Aber ist mehr immer auch besser? Studien zeigen, dass nicht der absolute, sondern der relative Vergleich wichtig ist: Es ist mir für meine Zufriedenheit wichtiger, dass ich gleich viel verdiene wie der Kollege in der ähnlichen Funktion, als dass ich möglichst viel verdiene. Dies gilt am meisten für die Kolleginnen innerhalb der Firma.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Nachvollziehbarkeit und die Transparenz. Sind die Kriterien, warum ich weniger verdiene, klar definiert und messbar (z.B. kein Hochschulabschluss, erst 3 Jahre im Beruf), habe ich weniger Mühe damit. Es entsteht ein Gefühl von Fairness. Ein Kriterium wie «er leistet mehr» löst dagegen oft Unzufriedenheit aus. Wer sich besser verkaufen kann und nicht das Nötige, sondern das Sichtbare tut, wird in einem solchen System bevorzugt (siehe auch «Leistungsmessung – nützlich oder gefährlich«).

Die relative (interne) Vergleichsmöglichkeit, die Nachvollziehbarkeit und Transparenz waren Dinge, welche das eingangs erwähnte Excel-Sheet souverän gewährleistet hat. Mit diesen Prinzipien kann ein Unternehmen beim Thema Lohn also abgesehen von der Lohnhöhe punkten. Kommen als sinnvoll wahrgenommene Aufgaben, gute Stimmung im Team und eine unterstützende Führungskraft hinzu, ist die Chance gross, dass man trotz höheren Löhnen anderswo nicht leichtfertig das Unternehmen verlässt.

Dimension Nr. 4: Lohn als Wertschätzung

Oft hat die Unzufriedenheit mit dem Lohn als tieferen Grund nämlich die mangelnde Wertschätzung durch das Unternehmen und die Führungskräfte. An vielen Orten ist das Jahresendgespräch über Leistung und allfällige Lohnerhöhung der einzige Ort, an dem Mitarbeitende Wertschätzung erfahren können. Wie oben bereits thematisiert ist das Verknüpfen von Lohnerhöhung und wahrgenommener «Leistung» dabei fatal. Wenn keine Lohnerhöhung möglich ist, muss die Leistung unweigerlich abgewertet werden und die Mitarbeitenden fühlen sich in ihrem Engagement nicht gesehen.

Intern wie auch gesellschaftlich sind zudem einige «Wertungen» im Lohnthema versteckt:

  • Wer Menschen führt, ist «mehr wert» als jemand, der geführt wird.
  • Wer seltene Fähigkeiten hat (z.B. IT) ist «mehr wert» als jemand mit häufigeren Fähigkeiten.
  • Wer mit dem Kopf arbeitet, ist «mehr wert» als jemand, der mit den Händen arbeitet.

Als Unternehmen ist es ein Balanceakt, inwieweit man sich diesen kulturellen «Glaubenssätzen» anschliessen will oder nicht. Es gibt Unternehmen, die diese Wertungen in ihrem internen Lohnsystem nicht umsetzen, und z.B. Führungskräfte gleich entlöhnen wie Fachexperten und damit sogar erfolgreich sind. Mitarbeitende können sich innerhalb einer solchen Kultur in ihren Aufgaben verändern, ohne Status oder Lohn einzubüssen. Sie schaffen somit eine pionierhafte Kultur des Miteinanders, welche auf viele Menschen attraktiv wirkt. Das gilt nicht nur für diejenigen, welche von den gängigen Glaubenssätzen benachteiligt sind, sondern durchaus auch für jene, die eigentlich davon profitieren, aber diese in Konflikt mit ihren eigenen Werten sehen.

Es gilt also, das Thema Wertschätzung vom Lohnthema möglichst zu entkoppeln – wie bereits in der Dimension «Kontinuierliche Verbesserung» angetönt. So kann man den Sachzwängen ausweichen und die Mitarbeitenden besser motivieren. Wertschätzung muss auch nicht nur mit dem Erreichen von harten Zielen verknüpft sein. Eine spontane positive Rückmeldung für kleine Aktivitäten, mit positiver Wirkung, ein Danke oder das Äussern von Vertrauen beim Übertragen von verantwortungsvollen Aufgaben befördern eine positive Unternehmenskultur weit nachhaltiger als sporadische, an obskure Bedingungen geknüpfte Lohnerhöhungen für einige wenige.